Walter S.G. Kohn: 50 Jahre nach der Deportierung der letzten Lichtenfelser Juden. Gedanken zum 9. November 1988

Walter S.G. Kohn: 50 Jahre nach der Deportierung der letzten Lichtenfelser Juden. Gedanken zum 9. November 1988

 

Lichtenfelser Hefte zur Heimatgeschichte Nr. 2, S. 26f.

 

Doch nun zum 9. November 1938 selbst. Ein trüber, vorwinterlicher Mittwochabend, wenn ich mich recht erinnere. Ich war wie gewöhnlich vor dem Abendessen mit dem Zug aus Coburg heimgekommen, wo ich schon über zwei Jahre lang eine jüdische Schule besuchte.

Man wusste nie, was der Jahrestag des Hitlerputsches von 1923 und des Zusammenbruchs des deutschen Heeres fünf Jahre früher mit sich bringen würde. Die Zeitungen waren voll der Empörung über den „feigen jüdischen Mordanschlag“ in Paris. Meine Mutter hatte vor, an dem Abend zu ihrem Schneiderkurs zu gehen. Eine Bekannte kam und sagte, dass die Lehrerin nicht aus Bamberg eintreffen werde. „Die Volksseele kocht“, waren ihre prophetischen Abschiedsworte.

Wir wohnten damals im jüdischen Gemeindehaus (Judengasse 14) neben der Synagoge. Im Erdgeschoß lebte der jüdische Lehrer Seliger mit seiner Frau. Im ersten Stock war unsere Wohnung und die einer christlichen Familie.

In den frühen Morgenstunden des 10. Novembers wurden wir durch lautes Geschrei aufgeweckt. Ein paar Betrunkene? Bald wussten wir, dass es sich um etwas Ernsteres handelte. Der Zaun, der das Gemeindehaus und den Vorgarten der Synagoge einschloss, war schnell niedergerissen. Eine Horde SA-Männer drang nun in die Synagoge ein. Da sie sofort alle Lichter anzündeten, konnten wir von unseren dunklen Zimmern hinter den Vorhängen alles beobachten. Die Fenster der Synagoge wurden eingeschlagen und die Vorhänge heruntergerissen. Die Gebetspulte wurden mit Äxten bearbeitet und Gebetbücher und Gebetsmäntel heruntergeworfen und zerstört. Im Zentrum der Synagoge war im Thoraschrein eine große Anzahl Thorarollen aufbewahrt. Diese enthalten die fünf Bücher Moses, sind handgeschrieben auf Pergament und werden als das unmittelbare Wort Gottes von den Juden als heilig gehalten. Sie wurden nun herausgeworfen und in Stücke gerissen. Was man irgendwie vernichten konnte, wurde zerstört, unter dem tierischen Geheul und Gejubel einer nicht mehr menschlichen Masse. Unterdessen machte man sich an das Gemeindehaus selbst und schlug im Erdgeschoß die Fensterläden der Wohnung des Lehrers Seliger ein. Er kam im Hemd zu uns herauf. Seine Frau blieb unten und war dabei, als man alles, was man nur kleinhaken und zerreißen konnte, zerstörte. Bücher, Geschirr, Bettdecken waren in Fetzen und Scherben, entweder in der Wohnung selbst oder auf der Straße. Seliger, nie sehr beliebt unter Juden oder Nichtjuden, ging nach Tagesanbruch auf die Straße und wurde für kurze Zeit verhaftet. Seine Frau traf der Verlust all ihres Eigentums schrecklich, besonders, da ihr Mann dann auch nicht wiederkam.

Aus eigener Erinnerung weiß ich nicht, was mit ihr geschah. Sie saß unter ihren Trümmern, als wir am Abend weggingen, war dann wochenlang spurlos verschwunden, bis man ihre Leiche bei Reundorf aus dem Wasser zog. Die Nazis sagten, es sei Selbstmord gewesen; ich weiß nur, dass sie ein paar Wochen vorher im Gespräch mit meiner Mutter sehr stark den Standpunkt vertreten hatte, dass man sich unter keinen Umständen sein eigenes Leben nehmen dürfe, auch wenn die Lage noch so trost- und hoffnungslos erscheinen sollte …

 

 

Prof. Dr. Walter S.G. Kohn

Walter Kohn wuchs in Lichtenfels auf und musste 1939 nach England fliehen. Dort begann er seine akademische Karriere, die er als Professor für Ökonomie und Politische Wissenschaften an der Illinois State University in den USA vollendete.

 

Prof. Dr. Walter S.G. Kohn

Prof. Dr. Walter S.G. Kohn
Screenshot aus dem Interview mit dem Virtual Holocaust Archive der USC von 1997

 

Kindheit

Lilly und Walter ca. 1923

Lilly und Walter Kohn 1923
© Familienbesitz

Am 16.05.1923 wurde er in Lichtenfels geboren. Seine Mutter Lilly Kohn stammte aus dem angesehenen Lichtenfelser Korbhandels­unter­nehmen Brüll und Kohn; ihre Ehe mit Hans Gerst, einem Bamberger Hopfenhändler, wurde 1923 bereits nach einem Jahr geschieden, Lilly zog ihren Sohn alleinstehend groß.

 

Obwohl das Familienunter­nehmen in der Weltwirt­schafts­krise 1932 zusammenbrach, hatte Walter Kohn seine Kindheit in Lichtenfels in bester Erinnerung, Zurücksetzungen oder Diskriminierungen hatte er in seiner Grundschulzeit bis 1933 nicht zu erdulden. Er berichtete z.B. von erlebnisreichen Fahrradtouren nach Vierzehnheiligen.

 

Wohn- und Geschäftshaus in der Kronacher Str. 20

Das Wohn- und Geschäftshaus in der Kronacher Str. 20
© Familienbesitz

Grundschulklasse Walter Kohn

Grundschulklasse Walter Kohns
© Familienbesitz

Jugend unter dem Nationalsozialismus

Am 30. März 1933 bestand Walter die Aufnahmeprüfung für die Realschule (das heutige Meranier-Gymnasium Lichtenfels), die sein Großvater mitgegründet hatte und auf der er nun der einzige Jude war.

 

Realschulklasse 1934 Walter Kohn

Die II. Klasse in der Hans-Schemm-Realschule Lichtenfels 1934.

Walter Kohn sitzt in der ersten Reihe als zweiter von rechts. Bemerkenswert sind die Zahl der HJ-Uniformen unter den Schülern, die Barttracht der Lehrkraft sowie die Fotografien von Hitler und Hindenburg an der Wand.

Walter Kohn verschränkt als einziger auf dem Bild die Arme.

© Familienbesitz

 

Erste antisemitische Vorfälle erlebte Walter Kohn ab 1933. Den Anfang machten nicht-jüdische Schüler mit gelegentlichen abfälligen Bemerkungen und Sprüchen; aber auch das sich generell verändernde Bild der Stadt, gemeint sind hier Schilder wie „Juden sind hier nicht erwünscht“ oder Naziflaggen und -uniformen, trugen zu der zunehmenden Ausgrenzung der Juden bei. Schikanen wie zerstochene Fahrradreifen oder direkte, wenn auch noch gemäßigte physische Gewalt nahmen zu.

 

Coburger Straße am 1. Mai 1934

Lichtenfels, Coburger Straße am 1. Mai 1934

© MBL

Titel Jahresbericht 1936/37

Schmuckblatt des Jahresberichts der Hans-Schemm-Realschule 1936/37 (Schülerarbeit)

 

Eine genauere Schilderung siehe hier. 

 

1934 mussten Lilly und Walter aus der Mietwohnung im Elternhaus in der Kronacher Straße 20 (jetzt Eigentum der Sparkasse) ausziehen, weil es die Parteizentrale der NSDAP-Kreisleitung wurde; auch aus der anschließend bezogenen Wohnung in der Bamberger Straße wurden Mutter und Sohn 1937 gewiesen, weil der Wohnraum angeblich für einen kriegswichtigen Betrieb benötigt wurde. Sie zogen in eine kleine Wohnung im ersten Stock des jüdischen Gemeindehauses in der Judengasse neben der Synagoge.

Ostern 1936 wurde Walter Kohn trotz hervorragender Noten als Jude der Schule verwiesen und musste die Höhere Jüdische Schule in Coburg besuchen.

 

Der 9.11.1938 – die Pogromnacht

Walter Kohn konnte die Schändung und Plünderung der Synagoge in der Pogromnacht des 9. auf den 10.11.1938 direkt aus dem Wohnzimmerfenster beobachten. Sein Bericht stellte die Gräuel plastisch dar.

 

In dieser schicksalsträchtigen Nacht wurden jüdische Häuser und die Synagoge in Lichtenfels gestürmt und verwüstet, Juden in „Schutzhaft“ genommen sowie verprügelt. Nach diesem Ereignis beschloss die Familie Kohn, dass ihnen keine andere Wahl blieb, als auszuwandern.

Flucht nach England

Lilly und Walter bekamen die nötigen Papiere zur Einwanderung nach Großbritannien über Lillys Bruder Max, der seit 1932 in England lebte und arbeitete. Walters Arbeitserlaubnis für England allerdings verzögerte sich, sodass er als Sechzehnjähriger allein in Lichtenfels zurückbleiben musste. Eine Tante zog nach Lichtenfels, um ihn zu betreuen. Erst im Juni 1939, nach drei Monaten, konnte er seiner Mutter mit einem Kindertransport nach England folgen, die aus Angst um ihren Sohn fast wahnsinnig wurde.

 

Zuerst als landwirtschaftliche Hilfskraft, später dann als Verwaltungskraft in einem Kriegsgefangenenlager südwestlich von London verdiente er seinen Lebensunterhalt und startete seine akademische Laufbahn mit dem Erwerb des Bachelor der London School of Economics.

Landwirtschaftshelfer in England Walter Kohn

Landwirtschaftshelfer in England
© Familienbesitz

Ein neues Leben in den USA

1947 wanderten Lilly und Walter in die USA (New York) aus; Walter arbeitete tagsüber als kaufmännischer Angestellter in einem Farbenhandel, um sein Studium der Ökonomie und der Politik zu finanzieren, das er als M.A und mit einer Dissertation abschloss.

 

Er lehrte danach zunächst am Lawrence College in Appleton im US-Bundesstaat Wisconsin, später am College for Teachers der State University of New York in Buffalo, schließlich über drei Jahrzehnte als Professor am Department of Political Science der Illinois State University (ISU). Er veröffentlichte wissenschaftliche Werke und Aufsätze. Die Illinois State University vergibt bis heute jährlich den Walter S. G. Kohn Award an Studierende europäischer Politik

 

1955 heiratete er die Lehrerin, Journalistin und Dramatikerin Rita Tevelowitz, mit der er drei Kinder hatte.

 

Er besuchte Lichtenfels in den Jahren 1988 und 1992 und hielt im Stadtschloss einen Vortrag über die Zeit in der NS-Diktatur.

 

Dr. Walter S.G. Kohn starb 1998.

 

Walter S.G. Kohn (ca. 1950)

Professor an der Illinois State University
© Familienbesitz

Walter und Lilly Kohn

Walter und Lilly Kohn
© Familienbesitz

 

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