Arnold Seliger

Verfasser: Manfred Brösamle-Lambrecht

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Arnold Aharon Seliger war das vierte von sieben Kindern des jüdischen Viehhändlers und Kaufmanns Maier [oder: Meir] Seliger und seiner Frau Klara, geb. Strauss. Er wurde am 18. August 1877 in Bad Orb (Hessen) geboren. Wie drei weitere seiner Geschwister (Sigmund, Leo und Erna) wurde er Opfer des Holocaust.

 

Laufbahn als jüdischer Lehrer

Arnold SeligerArnold Seliger durchlief die Ausbildung zum jüdischen Lehrer und Kantor (Präparantenausbildung, anschließend Lehrerseminar) und fand seine wohl erste feste Anstellung als Dreißigjähriger in der jüdischen Gemeinde in Neustadtgödens in Ostfriesland. Nun konnte er eine Familie gründen und heiratete am 8. Juli 1908 Sofie Gutmann aus Creglingen. Am 7. Juli 1913 kam das einzige Kind des Paares zur Welt: der Sohn Magnus Meir.

 

Im Weltkrieg diente Arnold Seliger als Landwehrmann im 78. Infanterieregiment.

 

Wie in allen kleineren Orten in Deutschland schwand die jüdische Gemeinde des kleinen ostfriesischen Ortes nach dem ersten Weltkrieg. Viele Jüdinnen und Juden zogen in größere Zentren oder wanderten aus. So musste 1922 die jüdische Schule in Neustadtgödens geschlossen werden, Arnold verlor seine Stelle. 1924 war er im ostfriesischen Weener als Lehrer, Kantor und Prediger tätig. Von dort aus zog die Familie 1925 nach Lichtenfels, wo Arnold Seliger als Lehrer (und wohl auch als Prediger und Schächter) der jüdischen Gemeinde angestellt wurde. Zu seinen Aufgaben gehörte auch Religionsunterricht für die wenigen jüdischen Schüler an der privaten Realschule Lichtenfels sowie für andere Kinder der jüdischen Diaspora im Rabbinat (z.B. in Kronach).

Leben in der NS-Diktatur

Mit der „Machtergreifung“ der Nazis sah Sohn Magnus Meir seine Zukunft nicht mehr in Deutschland; er verließ schon 1933 nach seiner Abiturprüfung als Zwanzigjähriger das Elternhaus, zog nach Bamberg, später nach Straßburg, und betrieb seine Auswanderung nach Palästina, die ihm auch gelang: Trotz großer Anfangsschwierigkeiten ließ er sich bald in Ramat Gan nieder und übernahm die palästinensische Staatsangehörigkeit. Ende der Dreißiger Jahre gründete er eine Familie.

 

Die Unterdrückung des jüdischen Lebens durch das NS-System traf Arnold und Sofie Seliger in besonderem Maße, da sie auch beruflich und ökonomisch eng damit verbunden waren. Die Lichtenfelser Gemeinde schrumpfte durch Wegzug oder Auswanderung immer stärker. So schrieb Arnold am 3. Februar 1936 an seinen Sohn:

„Meine Stellung her wird auch immer schlechter. Die liebe Mutter hat dir ja unsere Wohnungsverhältnisse in unserem Hause geschildert, die nicht erfreulich sind. Der Religionsunterricht ist jetzt pivat geworden, seither war er obligatorisch. Man wird mir wahrscheinlich das Schulzimmer nehmen und dann kann ich die paar Kinder, bei denen kein gesetzlicher Zwang zum Besuch des Religionsunterrichts mehr besteht, gar nicht mehr ordentlich unterrichten.“

(Brief an Magnus Seliger, Tel Aviv, vom 3. Februar 1936, im Besitz der Familie Avner Zeliger, Tel Aviv)

 

Die Sorge um das Wohlergehen von Magnus spricht aus vielen Briefen, die Arnold und Sofie an ihren Sohn sandten: Ratschläge zum beruflichen Werdegang, zum privaten Leben und auch immer dringlichere Bitten, doch nach USA auszuwandern, finden sich darin.

Schächterhaus Judengasse 14 (Zustand ca. 1955)

Die Familie Seliger wohnte im Erdgeschoß des gemeindeeigenen „Schächterhauses“ Judengasse 14 neben der Synagoge. Arnold und Sofie hatten nicht vor, dauerhaft in Lichtenfels zu bleiben: 1933/34 ließen sie in Bamberg ein Haus mit mehreren Wohnungen errichten, deren eine sie Ende 1938 beziehen wollten; nach den Novemberpogromen aber musste Arnold es wieder verkaufen.

Die Novemberpogrome 1938

Die Novemberpogrome zerstörten das Leben von Sofie und Arnold Seliger. Was genau am 10.11.1938 geschah, ist bis heute nicht beweisbar. Was man sicher weiß, ist, dass die Synagoge von einer johlenden Horde von NS-Schergen geschändet und geplündert wurde. Dann griffen sie die Wohnung der Seligers an. Arnold Seliger wurde in „Schutzhaft“ genommen, seine Frau blieb den enthemmten Tätern schutzlos ausgeliefert. Abends blieb sie verschwunden, erst am 3. Dezember fand man ihre Leiche im Main bei Reundorf. Die NS-Behörden sprachen von Selbstmord und schlossen die Akten.

 

Für Arnold Seliger brach die Welt zusammen. Seine abgrundtiefe Verzweiflung spricht aus einem Brief, den er zehn Tage später an seinen Sohn nach Palästina schickte:

 

„Lichtenfels, den 13. Dezember 1938

 

Mein l[ieber]  Magnus!

 

Deinen Brief vom 4. Dezember habe ich erhalten. Meine Trauer über den Verlust unserer geliebten Mutter ist noch immer grenzenlos, u. ich meine manchmal, ich könnte das Leben nicht mehr ertragen. Es ist alles so gekommen, u. ich kann Dir leider nichts ausführliches schildern. Du weißt ja, daß wir neben der Synagoge wohnen. Ob ich es durchhalten kann, weiß ich nicht. Ich esse bei Frau Kohn mittags u. abends. Im übrigen haben wir viel verloren. Ich muss in meiner Wohnung bleiben und besitze 2 reparierte Schränke, das Bücherschränkchen ohne Glas, 1 Sofa, 4 Stühle und 1 Bett. Die l[iebe] Mutter hatte solche Freude an den schönen Sachen. Die jüdischen Familien hier müssen sich sehr einschränken und wohnen vielfach zusammen.

Du, l[ieber]  Magnus, mußt alle Hebel in Bewegung setzen, um mich anfordern zu können. Ich werde Dir nicht zur Last fallen, sondern mich zu betätigen suchen. Mein Bronchialkatarrh macht mir allerdings Beschwerden, doch ich denke, daß das warme Klima in Erez mir nicht schaden kann. An Büchern besitze ich nur noch einige, die aber in gar keinem Zusammenhange miteinander stehen und noch etwas Kleider u. Wäsche. Von meinem Gelde muß ich sehr viele Abgaben bezahlen. Es wird mir nicht viel übrig bleiben. Doch ich kann mich über alles hinwegsetzen, nur nicht über den Tod meiner geliebten Sofie, das kann und kann ich nicht. Wir hatten solch schöne Pläne geschmiedet und wollten am 1. Dezember nach Bamberg ziehen; nun mußte ich den Acker für einen geringen Preis verkaufen und das schöne Haus muß ich auch verkaufen. Es war ein prächtiges Haus. Der Mensch denkt, Gott lenkt. […]  Ich verlasse mich ganz auf Dich; Du bist mein einziger Halt, nachdem die l[iebe]  Mutter nicht mehr da ist. Sie war seit einigen Wochen abgängig, am 3. Dezember wurde sie tot aufgefunden u. am 4. Dezember beerdigt. Was muß ich nun tun, wenn Du mich angefordert hast? Erkundige Dich darüber, damit Du Deinen alten Vater beraten kannst. Ich muß mich sehr zusammennehmen, daß ich meinen Verstand nicht verliere, so sehr hat mich der Tod der lieben Mutter an- gegriffen. Wie geht es Dir indessen? Ich würde mich in Erez mit einem trocknen Stückchen Brot begnügen und Du weißt, daß ich keine Ansprüche an das Leben stelle. Meine finanziellen Verhältnisse sind auch ganz verworren, durch diese Sache, allein dies kann ich Dir nur mündlich erzählen. Ich bin wenigstens insofern getröstet, daß Du Dich meiner annehmen willst. Meine Geschwister haben es abgelehnt, da sie viel mit sich zu tun haben und Schwester Lina ist im Herbst 1937 gestorben.

 

[…]. Lebe wohl, grüße Schulamith herzlich von mir und sei auch Du herzlich gegrüßt u. geküßt von Deinem unglücklichen u. tief gebeugten Vater Arnold

 

NB.Heute war ich in Bamberg. Ich kann Dir nur mitteilen, daß ich alle Nerven zusammennehmen muß, um nicht vollends unterzugehen.“

 

Quelle: Niedersächsisches Landesarchiv Hannover Nds.110 W Acc 31/99 Nr. 221729, Wiedergutmachung Magnus Seliger nach Arnold Seliger  

 

 

Neben die Trauer um den Verlust der geliebten Ehefrau traten ganz konkrete Daseinsängste, die ihn nicht mehr verlassen würden.

 

Am 13. August 1939 schrieb er seinem Sohn:

 

„[…] Nächstens wird bei den Glaubensgenossen die Arbeitsdienstpflicht eingeführt. [Randnotiz: Wenn ich den Dienst nicht mache, verliere ich unter Umständen meine Pension.] Es könnte sein, dass ich als Lehrer für eine große jüdische Klasse eingezogen würde, aber ich kann wegen meines Bronchialkatarrhs den Dienst nicht mehr machen und breche dann zusammen, da ich keine halbe Stunde ununterbrochen reden kann und dann Blut spucken müsste.

 

Lieber Magnus! Was soll mit mir werden? Körperlich nicht mehr gesund, geistig nicht mehr auf der Höhe, ein Spielball der fremden Menschen, die es nicht gut mit mir meinen. Mein Vermögen geht dann weg, und ich bin nicht Herr darüber. Mir graut es vor der Zukunft. […]

 

Brief Arnold Seligers an seinen Sohn Markus vom 13. August 1939; im Besitz von Avner Zeliger, Haifa

 

Die Familie ließ ihn im Stich. Eine Auswanderung nach Palästina zu seinem Sohn scheiterte trotz vieler Anstrengungen. In Lichtenfels hatte er mit dem Ende des jüdischen Gemeindelebens keine Lebensgrundlage mehr, er musste sich vom Ersparten und einer Pension über Wasser halten. Er glaubte wie viele andere Juden, in der Anonymität einer Großstadt den täglichen Repressalien des Systems besser entgehen zu können; seine Pläne, nach München zu ziehen, zerschlugen sich aber wegen der dortigen hohen Lebenshaltungskosten.

 

Letzte Jahre in Leipzig

So zog er 1939 nach Leipzig in die Funkenburgstraße 25 zur Pension in eine Wohnung im ersten Stock, wo er sich aber wegen seines Bronchialkatarrhs nicht wohlfühlte, sodass er 1940 ins Nachbarhaus zu einer anderen Pensionswirtin wechselte.

 

Das Leipziger Waldstraßenviertel war eine jüdisch geprägte Wohngegend, und wir wissen aus anderer Quelle, dass im selben Haus die zehnköpfige Familie Chaim Rodoff wohnte; sieben Mitglieder dieser Familie (Vater, Mutter und die fünf jüngsten Kinder) wurden im Januar 1942 nach Riga deportiert. Sie alle wurden in der Shoah ermordet.

 

Arnold Seliger Registerkarte

Registerkarte der Reichsvereinigung deutscher Juden. Sterbevermerk per Bleistift.

Arnold Seliger zog noch einmal um in die Humboldtstraße; kurz vor seiner bereits terminierten Deportation verstarb er am 8. Mai 1942 im Allgemeinen Jüdischen Krankenhaus in Leipzig. Als Todesursachen wurden Herzmuskelentartung und Lungenkrankheiten angegeben.

 

Quellen: Deinlein, Vera, Gedenkblatt für Arnold Seliger, https://www.bllv.de/projekte/geschichte-bewahren/erinnerungsarbeit/lehrerbiografien/arnold-seliger/, letzter Aufruf 29.07.2021 sowie eigene Nachforschungen.

 

Für wertvolle Hinweise und Materialien danke ich Herrn Christian Porzelt, Kronach, und Herrn Prof. Dr. Günter Dippold, Lichtenfels

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